In den letzten Monaten wird immer mehr über Alternativen zu Datenkraken wie Google und Facebook diskutiert. Ein Aspekt kommt dabei allerdings oft zu kurz, nämlich die Barrierefreiheit der Alternativen.
Nicht erst seit dem Cambridge-Analytica-Skandal ist die Datensammelwut großer amerikanischer Konzerne wie Google, Facebook oder Amazon in aller Munde. Aber dieser Skandal hat die Diskussion um Alternativen nochmals stark befeuert. Und auch ich werde immer häufiger gefragt, welche Alternativen es denn gibt, und hierbei auch, wie diese denn für Menschen mit Behinderungen bedienbar sind.
Die Bilanz hier fällt leider sehr gemischt aus. Unumstritten ist, dass die großen Konzerne ein Interesse daran haben, ihre Angebote möglichst barrierefrei zu gestalten. Das tun sie jedoch nicht unbedingt, weil sie dies für gut oder ethisch korrekt halten, sondern weil ihnen in den USA sonst wegen ihrer marktbeherrschenden Stellung saftige Klagen ins Haus stehen könnten.
Ausnahmen bilden hiervon sicherlich nur die Firmen Apple und Microsoft. Tim Cook, der CEO von Apple, sagte in den letzten Jahren wiederholt, dass bei ihnen bei der Accessibility nicht nach dem ROI, dem Return On Investment, gefragt wird, sondern die Projekte einfach gemacht werden, weil dies richtig und Barrierefreiheit ein Menschenrecht sei. Der aktuelle CEO von Microsoft wiederum, Satya Nadella, hat ein Kind mit einer Behinderung. Seit er Chef ist, ist Barrierefreiheit bei Microsoft zu einem Teil ihrer DNA geworden, und sie machen seitdem verdammt viel mehr richtig und mit echtem Engagement dahinter als vorher.
Alternativen hierzu haben es oft schwer, weil sie zu klein sind, nur auf freiwilligem Engagement basieren, oder schlicht das nötige Geld fehlt. Oder es sind Leute am Werk, die sich schlicht zu wenig Gedanken darum machen, in Webprojekten richtiges HTML zu verwenden, weil das bevorzugte JavaScript-Framework bzw. dessen Tutorials an sich schon keinen semantisch korrekten Code in ihren Beispielen verwenden. Unwissenheit oder Ignoranz junger, gesunder Programmierer sind nicht selten der Grund dafür. Es muss schnell gehen, also wird schnell zusammengeklöppelt, was toll aussieht und in hoher Geschwindigkeit auf den Markt bzw. auf Github geworfen werden kann.
Dies ist mit Absicht überspitzt formuliert, beschreibt die Probleme aber doch recht treffend. Um mal einige Beispiele zu nennen:
- Als offene Chat-Alternative wird inzwischen gern Matrix ins Feld geführt. Dessen bekanntester Client, Riot.im wird sogar von der französischen Regierung inzwischen als bevorzugte Messenger-Plattform gefordert und gefördert. Das Problem ist, dass weder die Web-App noch der Client für iOS im Ansatz so zugänglich sind wie z. B. Slack, Microsoft Teams oder Google Hangouts Chat. Matrix gehört wohl mit zu den unbenutzbarsten Alternativen, die es zur Zeit gibt.
- Als Alternative zu Dateispeicher und Online-Kollaboration gibt es gleich mehrere Dienste. In Deutschland wurde in den letzten Monaten recht pressewirksam NextCloud ins Gespräch gebracht, weil Bundesbehörden ihre Infrastruktur hierauf umstellen wollen. Als ich mir dann mal eine Demoversion anschaute, stellte ich innerhalb der ersten zwei Minuten diverse gravierende Mängel der Zugänglichkeit fest, die das Produkt zu der Zeit für Blinde nicht benutzbar machten. Auf meine diesbezüglichen Tweets hin wurde zugegebenermaßen sehr schnell reagiert, und im Moment wird fleißig nachgebessert, wo verschiedene engagierte Community-Mitglieder Fehler in den Web-Apps und iOS- und Android-Clients sowie den Desktop-Clients finden. Dass dies aber im Vorfeld trotz BITV und demnächst der EU-Norm 2102 nicht geprüft wurde, lassen wir jetzt mal unkommentiert so stehen. Die gute Nachricht ist aber hier: Es tut sich tatsächlich was, und hoffen wir mal, dass sich das auch auf die diversen Apps, die man in seinen NextCloud-Server installieren kann, durchschlägt, denn jede App bietet auch wieder neue Chancen für Unzugänglichkeit.
- Eine sehr gut bedienbare offene Alternative zu Diensten wie Gmail & Co. ist Open-Xchange, deren Macher in den letzten Jahren sehr viel für die Verbesserung der Barrierefreiheit getan haben und weiterhin tun. Aber da die dahinter stehende Firma deutlich kleiner ist als die Giganten aus Mountain View & Co., dauert es entsprechend länger, weil weniger Manpower am Stück auf ein solches Projekt geworfen werden kann. Ein Dienst, bei dem man Open-Xchange „in freier Wildbahn“ ausprobieren kann, ist z. B. Mailbox.org. Auch andere alternative E-Mail-Anbieter wie FastMail tun einiges, müssen aber auch immer wieder mal in die richtige Richtung gestupst werden.
- Zu Messengern wie Facebook Messenger oder WhatsApp gibt es einige Alternativen. Threema und Signal sind sowohl unter iOS als auch Android gut bedienbar, die Web-Angebote bzw. Desktop-Clients von Signal lassen jedoch (mal wieder) zu wünschen übrig. Die Threema GmbH hat in der Version 2.1 des Web Clients erheblich nachgebessert und ist inzwischen nutzbar. Wie die Arbeit bei Signal aussieht, ist mir der Status zur Zeit unbekannt. Telegram hat im März 2019 bei den iOS- und Android-Clients mächtig an Zugänglichkeit gewonnen, nd dank Unigram, einem Client für Windows, ist auch hier ein Zugang inzwischen möglich. Aber auch hier ist der Web Client wieder ziemlich unzugänglich. Andere Messenger wie Wire sind deutlich weniger gut zugänglich.
- Eine erfreuliche Entwicklung ist bei Mastodon zu beobachten, einer dezentralen Social-Media-Alternative zu Twitter & Co. Hier ist sowohl die eigentliche Software Mastodon als auch mindestens der alternative Web Client Pinafore sehr gut zugänglich, und man muss ausnahmsweise mal mehr mit den Entwicklern der iOS- und Android-Apps über Barrierefreiheit sprechen als mit den Entwicklern dieser Web Clients. Und klemmt es doch mal, wird schnell auf Fehlerberichte reagiert. Bei anderen Alternativen wie Friendica oder Diaspora sieht es leider zur Zeit noch nicht ganz so gut aus, aber immerhin gibt es gut zugängliche Möglichkeiten, am föderierten sozialen Netzwerken teilzunehmen, das auf einem offenen Standard basiert.
Barrierefreiheit der Großen funktioniert oft einfach 🔗
Und noch etwas ist ein wichtiger Aspekt: Die Barrierefreiheit der großen Anbieter ist, von wenigen Ausreißern abgesehen, inzwischen so gut wie die Dienste selbst. Ich kenne z. B. keine so gut zugängliche Aufgabenverwaltung für mehr als eine Person wie Microsoft To-Do. Die Listen- und Aufgabenverwaltung integriert sich über das Microsoft-Konto so nahtlos in iOS, Windows und Office, dass es schwer ist, dafür eine Alternative zu finden, die ähnlich gut funktioniert. Google Docs oder Microsoft Office Online gehören zu den besten Online-Office-Anwendungen, die ich kenne, was die Zugänglichkeit angeht. Gmail ist ein verdammt gut zugänglicher Web-Mailer, der Kalender ist ebenfalls sehr gut. So gut kommen da nur Microsoft Outlook im Web und auf dem Desktop oder Smartphone oder Apple MacOS- oder iOS-Mail und Kalender mit. Open-Xchange und andere haben hier, trotz teilweise guter Aufholjagd, immer noch nicht unbeträchtliche Lücken, gerade im Office-Bereich bzw. der Echtzeit-Zusammenarbeit.
Dazu kommt, dass, wenn man Windows benutzt, man kaum eine Alternative zu den Microsoft- oder Google-Diensten hat. Diese lassen sich beide sehr gut in Windows und Office integrieren. Dienste wie Open-Xchange oder NextCloud, die auf CalDAV und ähnlichen offenen Standards beruhen, lassen sich nur mit Drittanbieterprogrammen wie Thunderbird mit Erweiterungen nutzen. Während Thunderbird selbst gut zugänglich ist, ist es die Lightning-Erweiterung für Kalender fast gar nicht, und für eine wirklich gute Adressbuchunterstützung braucht es eine Erweiterung wie CardBook, um da überhaupt was zu erreichen. Unter MacOS und iOS sieht’s besser aus, weil Apple CalDAV und CardDAV nativ unterstützt, aber unter Android braucht man schon wieder Extra Apps dafür, weil Google natürlich die Nutzer gern mit seinen eigenen Diensten versorgen möchte und solche offenen Standards nicht anbietet.
Technisch versierte Anwender kommen mit dem Gefrickel sicher noch zurecht, das dazu nötig ist, die alternativen Dienste zu einer Zusammenarbeit mit dem eigenen Geräte-Fuhrpark zu bewegen. Die meisten Endanwender mit weniger technischem Hintergrund dürften hieran jedoch scheitern. Ich merke oft selbst, wie sehr es mich inzwischen nervt, wenn etwas nicht richtig funktioniert, weil mal wieder irgend eine Komponente aus dem heterogenen Gemisch durch ein Update was kaputt gemacht hat.
Fazit 🔗
Wenn man auf Barrierefreiheit angewiesen ist, bleiben einem oft kaum Alternativen zu den großen Netzwerken und Diensten aus den USA. Die Alternative wäre eine massiv eingeschränkte Benutzbarkeit für unseren Personenkreis und davon abhängig manchmal ja sogar Arbeitsplätze. Das Projekt „Linux in München“ ist ja auch unter anderem deshalb gescheitert, weil nicht alle Software mit gleichwertigem Ersatz ersetzt werden konnte. Und von einer mir bekannten „betroffenen“ Person weiß ich, dass ein Grund war, dass die Alternativen zu Microsoft Office eine oft so viel schlechtere Zugänglichkeit hatten, dass ein produktives Arbeiten damit nicht möglich war.
Die Ideen, die Netzpolitik.org hat, um die marktbeherrschenden Stellungen oder gar Monopole der großen US-Konzerne aufzubrechen, sind im Prinzip gut, funktionieren aber nur, wenn bei den Alternativen eben auch eine entsprechend gute Zugänglichkeit gewährleistet wird. Und das ist nach wie vor ein Großprojekt, das uns mit den immer gleichen Problemen schon seit über 20 Jahren beschäftigt. Ich wage mal die These, dass, um einen gleichwertigen Ersatz zu schaffen, durch das nötige Nacharbeiten in mancher Software Kosten entstehen könnten, die zwar nicht dem Volumen von Microsoft-Lizenzen entsprechen, jedoch auch nicht unbeträchtlich sind. Das liegt nicht daran, dass barrierefreie Lösungen per se teurer sind. Sie sind es nur dann, wenn die Barrierefreiheit nachgerüstet werden muss, weil zu Beginn eines Softwareprojektes die falschen Entscheidungen getroffen wurden.
Auch persönlich schlagen in meiner Brust zwei Herzen. Zum einen dasjenige, das sagt, man müsste eigentlich für alles offene Standards nutzen. Und zum anderen dasjenige, das einfach nur Dinge erledigt haben möchte. Ich habe mich in den letzten Monaten wieder stärker hin zu einer auf Microsoft-Diensten basierenden Infrastruktur hin orientiert, von einigen Ausnahmen abgesehen, weil diese für mich zur Zeit am besten funktioniert und für eine zuverlässige Barrierefreiheit steht. Den Konflikt werde auch ich also so schnell nicht lösen können, denke ich.